Interview
Rudolf von Steiger
Dominik von Fischer
David Krebs



Eine Gesellschaft für die Gemeinschaft

Die Gesellschaft zu Ober-Gerwern ist fast 700 Jahre alt – und erfindet sich im Kleinen doch ständig neu

 

 

An einem Nachmittag im Dezember betraten drei Männer ein Gesellschaftshaus an der Amtshausgasse und öffneten im ersten Stock die dicke Holztür zum Gesellschaftssaal. Als sie um den langen, mit Filz überzogenen Tisch herumgingen, hörten sie, wie unter ihren Füssen der Boden knarrte. Auf der anderen Seite des Raums nahmen sie auf ihren Stühlen Platz: Der Obmann in der Mitte, der Stubenmeister auf der linken, der Stubenschreiber auf der rechten Seite. Über ihren Köpfen trohnte ein Kronleuchter, an den hohen Fenstern in ihrem Rücken hingen schwere Vorhänge.

Klingt ein bisschen wie der Anfang eines Historienromans, nicht? Ist aber gerade erst passiert, im Dezember 2023 in Bern, in einem Gebäude gegenüber des Bundeshauses und der Nationalbank. Obmann Rudolf von Steiger, Stubenmeister Dominik von Fischer und Stubenschreiber David Krebs fanden sich hier ein, um über Gegenwart und Zukunft der Gesellschaft zu Ober-Gerwern zu sprechen, der drittgrössten von dreizehn Bernischen Zünften und Gesellschaften mit rund 1400 Angehörigen. Es redete meistens Rudolf von Steiger, was angesichts seiner Position nur korrekt war: Der Obmann ist der Vorsteher der Gesellschaft. Aber auch der Stubenschreiber (eine Art Generalsekretär) und der Stubenmeister (gewissermassen der Event-Manager der Gesellschaft) kamen zu Wort. Es ergab sich das Bild einer von Rücksichtnahme, Freundlichkeit und Verantwortungsbewusstsein geprägten Zunft.

Um aber über Gegenwart und Zukunft nachdenken zu können, muss man die Geschichte kennen. Vorausblicken geht nicht ohne Zurückschauen. Hier zunächst also ein kurzer historischer Abriss, angelehnt an das lesenswerte Buch «Die Gesellschaft zu Ober-Gerwern», das 1997 im Stämpfli-Verlag erschienen ist und beim Sekretariat der Gesellschaft erworben werden kann.

Die Gesellschaft zu Ober-Gerwern – ihr Wappentier ist bis heute ein schwarzer Löwe – ist aus der mittelalterlichen Zunft der Gerber und Lederhändler hervorgegangen, ihren Ursprung hat sie damit wie alle Bernischen Zünfte und Gesellschaften in einem Handwerk. Zunächst waren die Gerber an der unteren Gerechtigkeitsgasse tätig. Weil ihr Handwerk aber den Stadtbach verunreinigte und Geruchsbelästigungen verursachte, mussten sie schon früh in den alten Stadtgraben südlich des Zeitglockenturms und dann noch weiter an die Gerberngasse in der Matte umziehen. Zwar übte die Regierung die Oberaufsicht über Ausbildung, Qualitätskontrolle und Handel aus, man respektierte aber die Autonomie der Zünfte, weshalb die Meister die Entwicklung der verschiedenen Handwerke massgeblich prägten.

Im Mittelalter war das Ledergewerbe die lukrativste «Exportindustrie» von Bern, doch im 17. Jahrhundert häuften sich Klagen darüber, dass das einst blühende Gerberhandwerk rückläufig sei. Zunächst wurde versucht, dem mit einem Leder-Importverbot entgegenzuwirken, doch der Niedergang der städtischen Gerberei liess sich nicht aufhalten. Im Buch «Die Gesellschaft zu Ober-Gerwern» ist dazu Folgendes notiert: «Im 18. Jahrhundert befasste sich die Gesellschaft zu Ober-Gerwern wenig und schliesslich gar nicht mehr mit dem Handwerk, aus dem sie hervorgegangen war. Die Hauptbeschäftigung vieler Gesellschafter wurde die Politik. Die Ober-Gerwern und Mittellöwen hatten zusammen die meisten Vertreter in den Räten. Die vornehmsten Ober-Gerwern-Familien lieferten überdies fast allen europäischen Armeen Generäle und hohe Offiziere.»

Heute ist die Gesellschaft zu Ober-Gerwern eine durch die Verfassung des Kantons Bern garantierte öffentlich-rechtliche Körperschaft mit, nun ja, geringfügig anderen Aufgaben. Sie untersteht der Aufsicht der kantonalen Behörden, ist aber keine Territorialgemeinde wie Bern, Ostermundigen oder Köniz, sondern eine Personalgemeinde (auch Kirchgemeinden sind Personalgemeinden). Sie identifiziert sich also nicht über ein bestimmtes Territorium, sondern über ihre Angehörigen. Und sie ist – wie jede Gemeinde – steuerpflichtig.

Die Aufgaben, die sich daraus ergeben, lassen sich in zwei Bereiche unterteilen: Pflicht und Kür. Wie alle Bernischen Zünfte und Gesellschaften ist auch die Gesellschaft zu Ober-Gerwern verantwortlich für die Sozialhilfe und den Kinder- und Erwachsenenschutz ihrer im Kanton Bern wohnhaften Angehörigen. Früher gingen all diese Fälle im Gesellschaftssaal an der Amtshausgasse über den Tisch des Vorgesetztenbottes. Das ist die Exekutive der Personalgemeinde, das vollziehende Organ der Gesellschaft mit Obmann Rudolf von Steiger als Vorgesetztem. Er sagt: «Ich bin nicht unglücklich, dass wir diese Verantwortung nicht mehr tragen.» Seit Anfang 2022 ist für die operativen Aufgaben in diesem Bereich nämlich das Burgerliche Sozialzentrum zuständig.

Soweit die Pflicht. Aber worin genau besteht die Kür, wenn man über die Aufgaben der Gesellschaft zu Ober-Gerwern spricht? Es ist das, was in der Satzung der Gesellschaft unter Artikel 2, Punkt 3 in einem einzigen Satz festgehalten ist: «Sie (die Gesellschaft) kann einzelne Werke, die im öffentlichen Interesse liegen, unterstützen.» Klingt nicht besonders aussagekräftig, wird in der Realität aber mit viel Herzblut gelebt. Und vor allem: mit ziemlich viel Geld. Konkret unterstützt die Gesellschaft zu Ober-Gerwern mit etwa einer Viertelmillion Franken pro Jahr bis zu 100 kulturelle und gemeinnützige Anlässe oder Projekte: Chorkonzerte, Tanzaufführungen, Ferienlager für Menschen mit Behinderungen. Darüber hinaus vergibt die Gesellschaft jedes Jahr ein Osteuropastipendium für Musikerinnen und Musiker aus Osteuropa, die an der Hochschule der Künste HKB einen Master machen. Und: Sie vergibt auch jedes Jahr einen mit 20'000 Franken dotierten Preis für herausragende HKB-Masterarbeiten.

Was bisher noch gar nicht zur Sprache kam: Der Aspekt, der in der Satzung der Gesellschaft unter Artikel 2, Punkt 2 aufgeführt ist. Dort heisst es: «Sie (die Gesellschaft) fördert die Zusammengehörigkeit der Gesellschaftsangehörigen unter sich und ihre Verbundenheit mit der Burgergemeinde und der Stadt Bern.» Hier kommt Dominik von Fischer ins Spiel, der Stubenmeister aka. Event-Manager. Von Fischer, von Beruf Wirtschaftsinformatiker, kommt innerhalb des Vorgesetztenbottes eine besondere Bedeutung zu, denn ihm obliegt die nicht ganz leichte Aufgabe, auch jüngere Angehörige für gemeinsame Tätigkeiten innerhalb der Gesellschaft zu begeistern. Acht bis zehn Veranstaltungen organisiert er pro Jahr, darunter Stammtische, Familienfeiern, Grillfeste, und auch er, der diese Funktion nun seit drei Jahren innehat, hat festgestellt, dass immer etwa die gleichen Leute teilnehmen. Und andere gar nie. Eine seiner ersten Neuerungen: Man muss sich nun nicht mehr zwingend per Brief für eine Veranstaltung anmelden. Es reicht, eine E-Mail zu schicken. Nach allem, was man hört, geht es an diesen Zusammenkünften immer sehr lustig zu.

«Man muss mit der Zeit gehen, sonst geht man mit der Zeit», sagt Obmann Rudolf von Steiger dazu. Denkt er an die Zukunft, fällt ihm ein besonderes Highlight ein: Die 700-Jahr-Feier seiner Gesellschaft im Jahr 2032. 700 Jahre? Da merkt man erst, wie alt diese Gesellschaft wirklich ist. Fast so alt wie die Schweiz. Und dennoch existiert sie bis heute: Weil sie um ihre Geschichte weiss, sich aber auch vor Neuerungen nicht versteckt.

 

Text: Christof Gertsch